Von Preisverleihungen und Hinterhoflesungen: Ein Bericht über die Leipziger Buchmesse

© Leipziger Messe / Jens Schlüter

Am 27. April, dem ersten Tag der Leipziger Buchmesse, füllen die großen Hallen mit Besucher:innen, die an den Messeständen und Lesebühnen vorbeischlendern. Die Buchmesse in Leipzig findet jedes Jahr im Frühling statt und ist nach der Frankfurter Buchmesse das wichtigste Branchentreffen im Jahr. Während in Frankfurt allerdings die großen Deals abgeschlossen werden, steht in Leipzig das Lesefest im Fokus. In über 350 Orten, in Buchhandlungen, Cafés, Bars oder Theatherbühnen lesen Autor:innen aus ihren Büchern vor. Etwa 274.000 Besucher:innen zog es diesen Frühling dafür in die Stadt. Die letzten drei Jahre konnte die Buchmesse aufgrund von Corona nicht stattfinden, was dieses Jahr umso mehr zu etwas Besonderem machte…

Das Messegelände liegt im Norden von Leipzig, mitsamt dem See und der riesigen Glashalle, in der die Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse stattfindet. Jedes Jahr gibt es im Rahmen der Buchmesse ein Gastland, dessen Literatur und Schriftsteller:innen besonders im Rampenlicht stehen. Das diesjährige Gastland ist Österreich und bedeutende österreichische Schriftsteller:innen lächeln einem von Plakaten und Lesebühnen entgegen, beispielsweise Monika Helfer, Michael Köhlmeier und Anna Marwan. In Kombination zur Buchmesse findet jährlich auch die Manga/Comic-Con statt, für die sich ein Teil der Besucher:innen als ihre Lieblingscharaktere verkleiden. So wird die Buchmesse zu einem lebendigen Schauplatz der literarischen Kultur.

Als Besonderheit der Leipziger Buchmesse wird am ersten Messetag jährlich jeweils ein insgesamt mit 60.000€ dotierter Preis für Belletristik und Sachbuch/Essayistik vergeben – aber auch für Übersetzung. Der Preis für Sachbuch und Essayistik geht dieses Jahr an Regina Scheer für „Bittere Brunnen“. Eine Biographie, die das beeindruckende Leben der Feministin und Sozialistin Hertha Gordon-Walcher im 20. Jahrhundert in Deutschland nachzeichnet. Den Preis für Übersetzung erhält Johanna Schwiering, die aus dem argentinischen Spanisch Autorar Venturinis „Die Cousinen“ übersetzte. Der Coming-of-Age-Roman erzählt die Jugend des Mädchens Yuna, das in schwierigen Verhältnissen im La Plata der 1940er Jahre aufwächst. Der Preis für Belletristik wird Dinçer Güçyeter für sein Prosadebüt „Unser Deutschlandmärchen“ verliehen. In dem Roman geht es um die Geschichte seiner Familie, die als türkische sogenannte Gastarbeiter:innen nach Deutschland kamen. Zum Beispiel heißt es darin: „Total arbeitsunfähig, kleine Rente, unsere ausgeschabten Körper kannst du in einem Gastarbeitermuseum ausstellen: die Röntgenbilder unserer Knie, Arme, der Wirbelsäulen, der Hüften, Schweigen […] tschüss, Alamanya, ich küsse deine Stirn.“

In der Prosa sieht man deutlich die Spuren der Lyrik, der sich der Autor normalerweise widmet. Bei der Verkündung des Namens jubelt das Publikum mit. Auf der Bühne, während Gücyeter den Preis annimmt, sagt er: „Letztes Jahr wurde ich angerufen mit den Worten ‚Herr Gücyeter, die Jury hat sich eben entschieden, sie werden dieses Jahr für ihren Band ‚Mein Prinz ich bin das Ghetto‘ den Peter-Huchel-Preis bekommen.‘ Ich war allein an dem Tag und sah dann unten meine Mutter im Garten, bin zu ihr gelaufen und habe gesagt ‚Mutter, die haben mir einen Preis gegeben‘ und sie sagte mir ‚Zwei Jahre Pandemie und alle haben den Verstand verloren‘.“ Das Publikum lacht.

Dinçer Güçyeter lädt die anderen Belletristik Nominierten auf der Bühne ein. © Leipziger Messe / Stefan Hoyer

In den verschiedenen Hallen der Buchmesse stellen die unterschiedlichsten Verlage aus. Von den großen etablierten, zu den unabhängigen Verlagen, zu dem auch Güyçeters elif Verlag gehört. Etliche Flyer, Stifte und Jutebeutel liegen an den Vertragsständen aus, es herrscht bunter Trubel und Reizüberflutung. Hier werden Bücher verkauft, Kontakte vertieft und Lesungen gelauscht. Platz für Plausch ist auf der Buchmesse wenig, nach wenigen Minuten Wortwechsel drängt sich ein nächster dazwischen, will etwas kaufen, etwas besprechen, sich vorstellen. Für Menschen, die berufstätig auf der Messe sind, Lektor:innen und Verleger:innen etwa, reihen sich die Termine aneinander und die Augenringe werden immer größer.


Die Buchmesse ist ein Ort der Begegnung, Leser:innen können sich auf Autor:innen treffen und sich ihre Bücher signieren lassen. Judith Hermann steht beim Verlag von S. Fischer und ziert das ZEIT Magazin zur Messe, Ulrike Draesner geht an einem vorüber, sogar Altkanzlerin Angela Merkel kommt zurück in die Stadt, in der sie einst studierte, um am Samstagabend ihre Memoiren vorzustellen. Weitere Promi-Highlights sind die Interviews mit El Hotzo zu seinem Buch „Mindset“ und Şeyda Kurts „Hass“.  


Fernab vom Messetrubel finden im Rest von Leipzig auch viele Veranstaltungen im Rahmen von „Leipzig liest“ statt, mit mehr als 3.000 Events ist es das größte europäische Lesefest. Gelesen wird in Buchhandlungen, Cafés, Bars oder Theaterbühnen. Am Freitagabend findet beispielsweise die Lange Leipziger Lesenacht in der Moritzbastei statt, eine alte Bastion, mittlerweile als Club genutzt, die in den 70er Jahren von Studierenden ehrenamtlich von Schutt befreit wurde – unter anderem auch von der Physik-Studentin Angela Merkel. In dieser Lesenacht stellen Autor:innen wie Hengameh Yaghoobifarah oder Cécil Joyce Röski Texte vor. Ohne die Beschallung der Buchmesse sind die Lacher des Publikums für die Autor:innen plötzlich hörbar. In der Lyrikbuchhandlung kommen an drei Abenden zahlreiche Dichter:innen zusammen. Die Messe ist auch eine Zeit des Veröffentlichtung verschiedener Literaturzeitschriften wie der „Edit“, der „Bella Triste“ und der „Tippgemeinschaft“, die allesamt Texte von jungen Autor:innen abdrucken. Im Deutschen Literaturinstitut legt am Samstagabend ein DJ Techno auf. Die Messe ist eine Zeit des Feierns, der Begegnung und des Schlafmangels.


Leipzig bedeutet auch, unangekündigte Hinterhoflesungen, bei denen junge Menschen zusammenkommen, auf zusammengewürfelten Stühlen oder auf dem Boden sitzen, ihre Zigaretten in Döneralufolie aschen und Texten junger Autor:innen lauschen. Melodramatische Liebesbriefe folgen auf wortgewaltige Lyrik, selbstgeschriebene Songs auf Sci-Fi Fantasien. Im Vergleich zur Buchmesse in Frankfurt ist es ein anderes Gefühl nach Leipzig zurückzukommen. Es ist schön, auf der Bordsteinkante vor einem Späti Bier oder Mate zu trinken; es ist schön, das Graffiti am nächsten Hausprojekt zu betrachten, während ich den dritten Halloumi-Döner esse.


Das Aufeinandertreffen ist immer auch ein gegenseitiges Sehen und Bestärken, sich zu versichern: Ich sehe dich, ich finde dich toll und verfolge deine Arbeit. Leipzig ist eine große Umarmung. Die Hotelpreise schießen während der Messe in die Höhe, Bekannte versuchen bei Bekannten unterzukommen. Wir tun uns zusammen, schlafen in Zimmern von Freunden von Freunden. Als am Sonntag die Isomatten eingerollt, die Bettwäsche abgezogen wird, ist alles still, das Zimmer plötzlich leer. Aber mit einem vollen Herzen und Gepäck voller Bücher mache ich mich wieder auf den Rückweg nach Cambridge.

Of Award Ceremonies and Backyard Readings: A Review of  the Leipzig Book Fair

© Leipziger Messe / Jens Schlüter

On the 27th of April, the first day of the Leipzig Book Fair, the large halls fill with visitors strolling past the fair stands and reading stages. The Leipzig Book Fair takes place every spring and is the most important industry gathering of the year after the Frankfurt Book Fair. However, while the big deals are made in Frankfurt, the focus in Leipzig is on the reading festival. Authors read from their books in more than 350 locations, in bookshops, cafés, bars and theatres. Around 274,000 visitors were drawn to the city this spring— a welcome influx after the previous three online events due to Covid.


The fair is located in the north of Leipzig, along with the lake and the huge glass hall where the Leipzig Book Fair Prize is awarded. Every year, the Book Fair names a guest country whose literature and writers are placed in the spotlight. This year's guest country is Austria and renowned Austrian writers smile at you from posters and reading stages, among them: Monika Helfer, Michael Köhlmeier and Anna Marwan. Alongside the book fair, the Manga/Comic-Con takes place every year, for which some of the visitors dress up as their favourite characters. This colourful collaboration therefore transforms the book fair into a lively showcase for literary culture.


As a special feature of the Leipzig Book Fair, on the first day of the fair, each year a prize worth a total of €60,000 is awarded for fiction and non-fiction/essay writing, as well as for translation. This year, the prize for non-fiction and essay writing goes to Regina Scheer for Bittere Brunnen. A biography that traces the impressive life of the feminist and socialist Hertha Gordon-Walcher in 20th century Germany. The prize for translation goes to Johanna Schwiering, who translated Autorar Venturini's The Cousins from Argentinian Spanish. The coming-of-age novel tells the story of the youth of the girl Yuna, who grows up in difficult circumstances in La Plata in the 1940s. Finally, the prize for fiction is awarded to Dinçer Güçyeter for his prose debut Our German Fairy Tale. The novel follows the story of his family, who came to Germany as Turkish guest workers in the 1960s. For example, he writes: "Totally unable to work, small pension, you can exhibit our scraped bodies in a guest worker museum: the X-rays of our knees, arms, spines, hips, silence [...] goodbye, Alamanya, I kiss your forehead” (my own translation).


In his descriptive prose, Güçyeter’s masterful traces of poetry are clear. When his name is announced, the audience applaudes. On stage, as Gücyeter accepts the prize, he says: "Last year I received a phone call saying 'Mr. Gücyeter, the jury has just decided you will get the Peter Huchel Prize this year for your volume Mein Prinz ich bin das Ghetto.' I was alone that day and then I saw my mother downstairs in the garden and I ran to her and said 'Mother, they gave me a prize' and she told me 'Two years of a pandemic and everyone has lost their mind'." The audience laughs.

Dinçer Güçyeter invites the other Belletristik nominees on stage. © Leipziger Messe / Stefan Hoyer

A wide variety of publishers exhibit in the various halls of the book fair. From the big established ones, to the independent publishers, which also includes Güyçeter's elif publishing house. Many flyers, pens and tote bags are on display at the contract stands, there is a colourful hustle and bustle and a sensory overload. Books are sold here, contacts are made and readings are listened to. There is little room for chitchat at the book fair; after a few minutes of exchanging words, someone else pushes in, wants to buy something, discuss something, introduce themselves. For people who work at the fair, editors and publishers, for example, the appointments line up one after the other and the bags under their eyes just get bigger and bigger.

The book fair is a place where readers can meet authors and have their books signed. Judith Hermann stands at the publishing house of S. Fischer and graces the ZEIT magazine for the Fair, Ulrike Draesner walks past one, even former Chancellor Angela Merkel comes back to the city where she once studied to present her memoirs on Saturday evening. Other celebrity highlights include interviews with El Hotzo about his book "Mindset" and Şeyda Kurt's "Hate".  


Away from the hustle and bustle of the fair, the rest of Leipzig also hosts many events as part of "Leipzig liest” (Leipzig reads), Europe's largest reading festival with more than 3,000 events. Readings take place in bookshops, cafés, bars and theatres. On Friday evenings, for example, the Long Leipzig Reading Night takes place in the Moritzbastei, an old bastion now used as a club which was cleared of rubble by students on a voluntary basis in the 1970s - including then physics student Angela Merkel. During this reading night, authors such as Hengameh Yaghoobifarah and Cécil Joyce Röski present their texts. Without the sound system of the book fair, the audience's laughter is suddenly audible to the authors. In the poetry bookshop, numerous poets come together on three evenings. The fair is also a time for the publication of various literary magazines such as "Edit", "Bella Triste" and "Tippgemeinschaft", all of which print texts by young authors, meanwhile a DJ spins techno at the German Literature Institute on Saturday evening. The fair is a time for celebration, encounters and lack of sleep.


Leipzig means many things— unannounced backyard readings where young people come together, sit on chairs thrown together or on the floor, ash their cigarettes into kebab wrappers and listen to texts by young authors. Melodramatic love letters are followed by eloquent poetry, self-written songs to sci-fi fantasies. Compared to the Frankfurt Book Fair, it's a different feeling coming back to Leipzig. It's nice to drink beer or mate (a kind of tea) on the kerb outside a Späti (the local off-licence); it's nice to look at the graffiti on the next house project while eating your third halloumi kebab.


Meeting each other is always also a process of mutually seeing and  reassuring each other: I see you, I think you're great and I follow your work. Leipzig is a big hug. Hotel prices skyrocket during the fair, acquaintances try to stay with acquaintances. We team up, sleep in rooms of friends of friends. On Sunday, when the sleeping mats are rolled up and the bed linen is taken off, everything is quiet, the room suddenly empty. But with a full heart and luggage full of books, I make my way back to Cambridge.

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